Archivmagazin Nummer 6: Themenheft zu den stenografischen Mitschriften
Liebe Leserin, lieber Leser
Das neue Archivmagazin, das wir Ihnen hier vorstellen, eröffnet einen Einblick in eine wenig bekannte Kammer der Werkstatt der editorischen Arbeit am Werk Rudolf Steiners. Denn trotz gänzlich fehlender Tonaufnahmen können wir die Vorträge Rudolf Steiners heute nur deshalb studieren, weil ein großer Teil von ihnen mitstenografiert wurde. Von den über 6000 Vorträgen, die Rudolf Steiner während 44 Jahren gehalten hat, sind weit über die Hälfte mitstenografiert worden. Um die Wende zum 20. Jahrhundert existierten etwa 20 verschiedene Kurzschriftsysteme, unter denen die Gabelsberger- und die Stolz-Schrey-Kurzschrift die verbreitetsten waren. Obwohl es sich hier um streng reglementierte Systeme handelt, verwendete jeder Stenografierende nebst der individuellen Ausformung noch eigene Kürzel zur Beschleunigung des Mitschreibens. Deshalb ist der Weg vom Stenogramm zum gedruckten Text ein mehrphasiger Prozess, der nicht nur Kenntnis der Kurzschrift, sondern auch viel Entzifferungsarbeit erfordert. In dem neuen Archivmagazin zeigt Michel Schweizer an vielen konkreten Beispielen aus den Mitschriften von Vorträgen Rudolf Steiners diesen spannenden Weg vom gesprochenen Wort bis zum gedruckten Text auf und stellt die fünf offiziellen Stenografierenden Helene Finckh, Walter Vegelahn, Hedda Hummel, Georg Klenk und Franz Seiler vor.
Dies kann ein Anlass sein, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass das Werk Rudolf Steiners, in dem das Geschriebene neben dem Gesprochenen steht, eine besondere Quellensensibilität verlangt. Während im geschriebenen Werk der Gedanke unmittelbar zur Handschrift und dann zur ‹autorisierten› Druckschrift wird, macht das Gesprochene einen Umweg über die stenografischen Mitschriften Dritter, die erst wieder in Langschrift übertragen und dann als gedruckte Schrift ediert werden müssen. Berücksichtigt man noch, dass in die Vorträge Rudolf Steiners immer auch latenten Fragen der Anwesenden eingeflossen sind, wird deutlich, welch komplexen medialen Prozess die lebendigen Gedanken seiner Vorträge durchgemacht haben. Der Verlust der Aura, der der technischen Reproduzierbarkeit geschuldet ist (wie Walter Benjamin auseinandergesetzt hat), ist in der Lektüre zu verwandeln. Und gerade dies gibt uns die Möglichkeit, solche Texte nicht absolut verstehen zu müssen, sondern sie im Verarbeiten zu individualisieren, um uns dadurch von der im Druck «gesetzten» Festlegung zu emanzipieren.
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